Seit dem 16. März ist in Sachsen die Schulpflicht ausgesetzt, seit dem 18. März sind die Schulen geschlossen – und mindestens bis zum 19. April soll das auch so bleiben. Das ist ein Monat, in dem der Unterricht, wie Schüler:innen, Lehrer:innen und alle Anderen ihn kennen, nicht stattfinden wird. Dennoch soll gelernt werden, meist indem Lehrer:innen Materialien online zur Verfügung stellen und die Ergebnisse teils nicht benoten, aber bewerten. Diese nie vorher erprobte Art des Lehrens und Lernens bringt große Herausforderungen mit sich für alle an der Schulpraxis Beteiligten.
Egal ob Schüler:innen, Lehrer:innen oder auch Eltern – was sie dieser Tage leisten, ist überwältigend. Sie alle investieren außerordentlich viel Arbeit in den Fortbestand des schulischen Lernens, und diese Mühen zahlen sich aus. Dennoch zeigt sich: Viele sind mit der für uns alle neuen Situation und den daraus erwachsenden Anforderungen überfordert. Es fehlt an Wissen über und Erfahrung mit technischen Plattformen und methodischem Handwerkszeug, um einen digitalisierten Unterricht durchzuführen. Schlechte Betreuungsschlüssel führen dazu, dass eine individuelle Betreuung, wie sie nötig wäre, kaum möglich ist.
In vielen Haushalten fehlen aber auch die Endgeräte, um sinnvoll arbeiten zu können: Wenn Mama, Papa und drei Kinder im Homeoffice bzw. in der Homeschool arbeiten sollen, aber zuhause nur ein einziger Computer steht, kann niemand das erfüllen, was eigentlich erwartet wird. Auch wer keinen Drucker hat, kann viele Aufgaben nicht erfüllen – denn häufig genug basieren auch in einer vermeintlich digitalisierten Welt Schulaufgaben auf dem Prinzip: ausdrucken, ausfüllen, einscannen, abschicken. Da zudem viele Eltern damit überfordert sind, ihre Kinder im Homeschooling zu betreuen, droht eine zunehmende bildungspolitische Spaltung entlang von Einkommensgrenzen.
Corona zeigt uns, …
…dass wir den Ablauf des Schul-, Ausbildungs- und Hochschuljahres in diesem Jahr anpassen müssen.
In diesem Schuljahr fehlen den Schüler:innen aller Schulformen schon jetzt vier Wochen Unterricht. Dadurch beherrschen Schüler:innen den Unterrichtsstoff dieser vier Wochen nur, so weit sie ihn sich selbstständig oder mit der Unterstützung ihrer Eltern aneignen konnten. In den meisten Fällen wird das verbliebene Pensum bis zum Ende des Schuljahres womöglich nicht mehr nachzuholen sein. Besonders dramatisch ist dieser Unterrichtsausfall für die Klassen, die im kommenden Jahr ihre Abschlüsse bekommen sollen, da sie alles, was jetzt nicht gelernt wurde, womöglich nicht werden nachholen können.
In den Grundschulen besteht die Gefahr, dass gerade erlernte Kompetenzen – wie etwa das Lesen in den ersten Klassenstufen – durch vier Wochen des Nicht-Übens wieder verloren gehen. Den Abschlussjahrgängen dagegen fehlt die entscheidende lehrer.innengelenkte Phase der Vorbereitung auf ihre Abschlussprüfungen.
Die Entscheidung Sachsens, fürs Abitur mehrere Prüfungstermine anzubieten und es den Schüler:innen freizustellen, sie schon jetzt im April oder erst später im Mai zu schreiben, ist grundsätzlich zu begrüßen. Vergleichbare Lösungen müssen nun auch für die Abschlussprüfungen anderer Schulformen gefunden werden. Bei der vorgelegten Lösung für den Abiturjahrgang muss sich der Freistaat zudem die Option offenhalten, den zweiten Termin im Mai und den Nachholtermin im Juni vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung der Epidemie ggf. noch weiter zu verschieben.
Es ist bedauerlich, dass diese sächsische Lösung ausschließlich eine sächsische ist. Die Schwäche unseres föderalen Bildungssystems spiegelt sich in den uneinheitlichen Maßnahmen der einzelnen Bundesländer wider. Um eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse zu gewährleisten, müssen die Bundesländer einheitliche Lösungen finden.
…dass wir auch bei Abschlussprüfungen den Infektionsschutz einhalten müssen.
Die Länder müssen dabei gewährleisten, dass auch bei Abschlussprüfungen der Infektionsschutz streng eingehalten wird und insbesondere Schüler:innen keinen Nachteil erleiden, wenn sie oder ihre Angehörigen zur Risikogruppe gehören. Die individuelle Entscheidung für oder gegen einen Prüfungstermin soll nicht aus Angst vor einer Ansteckung getroffen werden, sondern ausschließlich vor dem Hintergrund des eigenen Lernstandes. Die Umsetzung dieser Maßnahmen darf jedoch nicht zur weiteren Verknappung von Schutzmaterial im medizinischen Bereich führen. Schutzmasken und Desinfektionsmittel müssen zuallererst für die Bekämpfung des Virus – und erst dann zur situationsgerechten Durchführung von Prüfungen genutzt werden.
Zu den Problemen bei der Durchführung der Abschlussprüfungen selbst kommt hinzu, dass allen Schüler:innen in den Abschluss einfließende Schulnoten fehlen, die ihr Gesamtergebnis womöglich hätten verbessern können. Daher muss ihnen nun ermöglicht werden, auf freiwilliger Basis eine zu anderen Jahrgängen vergleichbare Menge an Test- und Klausurnoten zu erbringen. Den Abiturient:innen, die ihre Prüfungen erst im Mai ablegen möchten, muss ermöglicht werden, die Vorbereitungsphase nachzuholen. Und es muss für Schüler:innen aller Schulformen gewährleistet werden, dass der Ausfall des Unterrichtsstoffs keinen negativen Einfluss auf ihren Abschluss hat – etwa, indem Lehrer:innen verpflichtet werden, bestimmte Prüfungsteile nicht zu werten, wenn das dafür nötige Wissen durch den Schulausfall nicht im regulären Schulbetrieb unterrichtet werden konnte. All diese Maßnahmen dürfen einen reibungslosen Einstieg in Studium oder Ausbildung nicht verhindern, weshalb Bewerbungs- und Immatrikulationsfristen ggf. an den verschobenen Ablauf angepasst werden müssen.
…dass wir Lernsax zeitnah flächendeckend zu einer quelloffenen, echten digitalen Unterrichtsplattform ausbauen müssen.
Mit der Suche nach Möglichkeiten, einen digitalen Unterricht aufrechtzuerhalten, waren viele Lehrer:innen und auch Schulen auf sich allein gestellt. Es gibt eine Vielzahl von Angeboten in dem Bereich, die Länder bieten im Umgang mit ihnen jedoch wenig bis keine Orientierung. Dadurch, dass die Plattform „Lernsax“ schon vor der Krise existierte, war Sachsen besser aufgestellt als andere Bundesländer.
Dennoch zeigt sich, dass das Kultusministerium seiner Aufgabe nicht gerecht geworden ist, die Digitalisierung unserer Schulen aktiv voranzutreiben: Viel zu wenige Schulen waren vor der Krise an „Lernsax“ angeschlossen, und die Belastungsprobe unmittelbar nach Schließung der Schulen hat gezeigt: Die vorhandene Infrastruktur war der Herausforderung nicht gewachsen. Auch wenn hier schnell nachgesteuert werden konnte, muss Lernsax zeitnah flächendeckend ausgebaut werden, damit alle Schulen Zugang sowohl zu einer Cloud als auch zu anderem Handwerkszeug digitalen Unterrichts haben. Dabei darf jedoch im Vordergrund nicht nur die Frage stehen, wie im Falle von wiederholten Schulschließungen bei zweiten oder dritten Wellen von Corona der Unterricht digital aufrechterhalten werden kann, sondern vor allem auch die Frage: Wie kann Unterricht auch im „Normalbetrieb“ von der Digitalisierung profitieren?
Auch wenn Digitalisierung nicht die Wunderwaffe für guten Unterricht ist: Gerade für einen binnendifferenzierten Unterricht, der auf die individuellen Stärken und Schwächen einzelner Schüler:innen eingeht, bietet die Digitalisierung schier unbegrenzte Möglichkeiten. Über eine geeignete Lernplattform können Lehrer:innen etwa ihren Schüler:innen maßgeschneiderte Curricula erstellen, ihnen ein schnelles und laufend aktuelles Feedback geben und dabei auf einen breiten Aufgabenpool (auch anderer Lehrer:innen) zurückgreifen und eigene Arbeiten und Erkenntnisse mit Kolleg:innen teilen. Mit geeigneten Softwarelösungen bieten sich in fast jedem Unterrichtsfach Möglichkeiten, Inhalte anschaulicher zu vermitteln. Auch digitale Schulbücher würden es Grundschulkindern ersparen, jeden Tag schwere Ranzen in die Schule und wieder nach Hause schleppen zu müssen.
Vor diesem Hintergrund schöpft Lernsax seine Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Lernsax muss daher zu einer multifunktionalen Unterrichtsplattform weiterentwickelt und quelloffen ausgestaltet werden, da es 100% staatlich finanziert ist und auf diesem Wege auch andere Bundesländer von den Erfahrungen Sachsens profitieren könnten. Kurzfristige Anpassungen könnten so durch die IT-Community vorgeschlagen und unkompliziert umgesetzt werden.
…dass wir in der Lehramtsausbildung mehr Wert auf den Einsatz digitaler Medien legen müssen.
Gleichwohl ist nicht jede Anschaffung im Bereich digitaler Medien auch sinnvoll. Smartboards haben hohe Anschaffungskosten, während ihr praktischer Mehrwert für den Unterricht dazu selten in sinnvoller Relation steht. Nur die wenigsten tatsächlich gehaltenen Unterrichtsstunden werden dadurch besser, dass sie mit Smartboard statt mit Kreide und Polylux gehalten werden, oder zumindest mit Beamer und Laptop. Der Mehrwert ist jedoch umso größer, je besser die Lehrer:innen im Umgang mit diesen Medien geschult sind.
Das zeigt: Ohne eine gezielte Aus- und Fortbildung von Lehrkräften ist jeder Digitalisierungsschritt wertlos. Das gilt sowohl im Umgang mit Software wie etwa Plattformen wie Lernsax, als auch im Umgang mit Hardware wie Smartboards. Deswegen muss dem Umgang mit digitalen Medien im Lehramtsstudium eine zentrale Rolle eingeräumt werden. Gleichzeitig nimmt in einer digitalisierten Welt die Halbwertszeit von Wissen rapide ab. Da das Wissen über digitale Medien aus dem Studium schon nach wenigen Jahren überholt und damit wertlos ist, müssen alle Lehrkräfte regelmäßige Fortbildungen zu digitalem Unterricht besuchen dürfen.
…dass wir das Konzept der SPD-Kindergrundsicherung um eine Digitalisierungsgarantie erweitern müssen.
Akuter Nachholbedarf besteht jedoch vor allem auch im Bereich Hardware. Schnelles WLAN muss an Schulen eine Selbstverständlichkeit sein. Viel Aufmerksamkeit erregt haben in der Vergangenheit einzelne teure Modellprojekte wie iPad-Klassen. Es würde jedoch Unsummen an Geldern verschlingen, alle Schüler:innen in Sachsen gleichermaßen auf diese Weise auszustatten und diese Ausstattung durch regelmäßige Neuanschaffungen aufrechtzuerhalten. Viele Schüler:innen haben zudem eigene Geräte. Eine derartige Ausstattung von ganzen Klassen mit teuren Geräten ist daher nicht nachhaltig, und in den meisten Fällen auch nicht zielführend. Die Verwendung der Schulgeräte entkoppelt die digitale Lernerfahrung von der alltäglichen Lebenswirklichkeit.
Gleichzeitig wäre ein reiner „Bring your own device“-Ansatz ungerecht gegenüber Schüler:innen, deren Eltern sich den Kauf teurer Endgeräte nicht leisten können. Nur ein wirklich eigenes Gerät schafft die Grundlagen für das Verständnis digitaler Selbstorganisation von der Instandhaltung des Betriebssystems bis hin zur Organisation privater und schulischer Dateien. Daher muss das Konzept der Kindergrundsicherung der SPD um eine Digitalisierungsgarantie ergänzt werden, die allen Schüler:innen sowohl den Zugang zu einem eigenen digitalen Endgerät, als auch einen schnellen Internetzugang zu Hause gewährleistet.
…dass wir auch für die Fragen der Eltern Anlaufstellen schaffen müssen.
Wenn wir Unterricht aufrechterhalten wollen, auch wenn Schulen geschlossen sind, müssen Schulen die unmittelbare Betreuung der Schüler:innen gewährleisten können und für ihre Fragen barrierefrei erreichbar sein. Viele Eltern sind mit der Aufgabe überfordert, ihren Kindern bei den schulischen Aufgaben zu helfen, besonders wenn sie nicht oder nur schlecht deutsch sprechen. Wir dürfen sie in solchen Situationen nicht alleine lassen. Wir müssen Anlaufstellen einrichten, über die sich Eltern in ihrer Muttersprache Information und Unterstützung zu schulischen Fragen ihrer Kinder einholen können.
…dass wir an Schulen verstärkt IT-Kenntnisse und die Fähigkeit zu selbstständigem Arbeiten vermitteln müssen.
Um Eltern langfristig in vergleichbaren Situationen zu entlasten, müssen wir in Zukunft noch mehr Wert darauf legen, Schüler:innen selbstständiges Arbeiten zu lehren. Wir müssen ihre Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien ab der Grundschule stärken, sowohl die „weichen“ Fähigkeiten wie Quellenkritik im Internet und Datenschutz, als auch die „harten“ Fähigkeiten wie den Umgang mit Computern und grundlegenden Informatikkenntnissen vom Zehnfingerschreiben bis hin zu Grundlagen der Programmierung.
…dass wir mehr Lehrer:innen und Erzieher:innen sowie qualifiziertes IT-Personal einstellen müssen.
Umgekehrt dürfen wir jedoch auch Lehrer:innen und Schulen mit dieser Herausforderung nicht im Stich lassen. Wir müssen mehr Lehrer:innen einstellen und Klassengrößen reduzieren, damit sich die Last auf noch mehr Schultern verteilt, und damit Lehrkräfte die notwendige Zeit bekommen, auf die individuellen Anforderungen ihrer Schüler:innen einzugehen.
Das Problem zeigt sich nicht nur an Schulen, sondern auch an Kitas, wo wir von den angestrebten Betreuungsschlüsseln von etwa 1:3 für Kleinstkinder noch weit entfernt sind. Solange solche Schlüssel aber meistenorts Utopie sind, bleibt es schwierig, Kitas infektionsschutzgerecht wieder zu öffnen. Das gilt aber wiederum auch an Schulen: Solange Klassen groß und Räume klein sind, kann der nötige Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden.
Um aber auch genügend qualifizierte Anwärter:innen für diese zusätzlichen Stellen zu gewinnen, müssen wir Lehrer:innen unterschiedlicher Schulformen bundesweit gleichermaßen und gerecht entlohnen. Nur dadurch bringen wir der besonderen Bedeutung dieses Berufs auch eine angemessene monetäre Wertschätzung entgegen. Und wir müssen an Schulen Fachkräfte für die IT-Ausstattung einstellen, damit die Qualität und Sicherheit der digitalen Infrastruktur an Schulen nicht auf Lehrer:innen angewiesen ist, die sich in ihrer Freizeit um Aufbau und Pflege dieser Strukturen kümmern müssen.
Das Papier #coronazeigtuns: Schulen & Bildung gibt es hier als PDF-Datei zum Herunterladen.