Europa & EU

Das Coronavirus kennt keine Staatsgrenzen. Es kennt keine Nationalitäten, keine Religionen, keine Hautfarben. Das Virus betrifft uns alle gleichermaßen, und ist damit ein Problem, dass wir am besten gemeinsam lösen – solidarisch. Doch dadurch, dass Strukturen diskriminierend, Ressourcen und Voraussetzungen ungleich verteilt und Menschen und Staaten unsolidarisch sind, trifft die Krise bestimmte Staaten und Gruppen von Menschen härter als andere. Auf der Welt sind manche Regionen besonders betroffen, einzelne Länder leiden besonders und auch innerhalb der Länder sind die Lasten und Leiden nicht über alle gleich verteilt. 

Das gilt auch innerhalb von Europa und der EU. Ihr Keim war einst ein wirtschaftlicher, und ihre Strukturen und Prioritäten spiegeln dies bis heute wieder. Aber sie hat das Potential, deutlich mehr zu sein, und ist es in vielen Teilen auch. Dank Schengen bedeutet sie für Menschen, die einmal drinnen sind, maximale Freizügigkeit. Für viele Menschen, die heute in Deutschland aufwachsen, waren Grenzen lange ein hypothetisches Konstrukt, Schlagbäume kannten sie nicht. Die EU hat das Potenzial eine echte Gemeinschaft zu sein. 

Aber in der Krise hat sich gezeigt, wie weit wir von diesem Ideal entfernt sind. Der erste Reflex vieler Staaten war es, ihre Grenzen dicht zu machen und darauf zu achten, wie sie sich selbst versorgen können – ungeachtet möglicher Schäden ihrer Nachbarn, und sei die gemeinsame Freundschaft tags zuvor noch so laut beschworen worden. Erst der zweite Gedanke galt der Frage: „Wie können wir dieses Problem gemeinsam lösen? Uns gegenseitig helfen? Solidarisch sein?“ Doch was ist eine Solidarität wert, die in der Krise nicht gelebt wird? Das müssen sich nun alle Länder Europas fragen und sich gemeinsam daran machen, ihre Zusammenarbeit auf stabilere Füße zu stellen.

Corona zeigt uns, …

…wie gefährlich in der Krise ein „ich zuerst“, und wie wichtig grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist.

In den ersten Wochen von Corona häuften sich Berichte über Beschaffungswettkämpfe um Schutzgüter. Es galt das Recht der Stärkeren – und der Reicheren. Nur wer Geld hatte, konnte sich schützen, unabhängig von der Dringlichkeit. Das deutet an, welche Verteilungskämpfe es geben könnte, wenn erst einmal ein Impfstoff ohne vorherige internationale Übereinkunft zu seiner umfassenden Verfügbarkeit auf den Markt kommt. Es ist weiterhin unklar, wie eine gerechte Verteilung dieses heiß ersehnten Schutzes gewährleistet werden kann und wie verhindert wird, dass reiche Staaten sich zunächst selbst bedienen, während arme Länder im Regen stehen gelassen werden. Hier ist auch die EU in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. 

Am 4. März verfügte die Bundesregierung ein Exportverbot für Schutzmasken, Handschuhe und weitere Schutzausrüstung, anders sei das Funktionieren des Gesundheitssystems nicht aufrecht zu erhalten. Das Signal an Deutschlands Nachbarstaaten und den Rest der EU war jedoch verheerend: In Italien stand das Gesundheitssystem kurz vor dem Zusammenbruch und war dringend auf Unterstützung angewiesen, doch Deutschland hortete lieber selbst. Gleichzeitig sahen wir Bilder von in Italien landenden Flugzeuge mit – wie sich im Nachhinein herausstellte, teils mangelhafter – Schutzausstattung aus China. Sicherlich hat hier Propaganda keine unwichtige Rolle gespielt, aber die intendierte Botschaft war klar: Wir helfen in der Not – anders als eure vermeintlichen Freund:innen. 

Die Staaten Europas haben in diesem Moment ihr Versprechen von Solidarität nicht eingelöst. Sie haben sich anstecken lassen von Donald Trumps „Ich zuerst“, statt „Gemeinsam sind wir stark“ zu leben. So etwas darf sich in einer zukünftigen Krise, wie etwa einer möglichen zweiten Corona-Welle, nicht wiederholen. Die EU muss dazu in der Lage sein, jenseits von langatmiger Gipfelpolitik kurzfristig und schlagfertig zu agieren, wenn sie sich als Ganzes in einer Krise befindet, um etwa die Versorgung mit überlebensnotwendigen Gütern zu garantieren. Dafür muss die EU-Kommissionen mit mehr Befugnissen ausgestattet werden, um entschlossen handeln zu können: Der Tiger muss Zähne bekommen.

Und wir müssen uns fragen, warum notwendige Schutzausrüstungen nicht ausreichend innerhalb Europas produziert werden. Wie gefährlich die Abhängigkeit von globalen Lieferketten ist, haben wir drastisch vor Augen geführt bekommen. Eine Produktion innerhalb Europas wäre nicht nur robuster gegenüber solchen Gefahren – sie würde es uns auch erleichtern, über die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards zu wachen. Nebenbei hilft eine solche regionalisierte Wirtschaft dem Klima in erheblichem Maße. 

…dass Europa davon profitieren würde, wenn die EU ihre Gesundheitspolitik koordinieren würde.

Wir müssen aber nicht nur bei der Versorgung mit Gesundheitsgütern, sondern auch bei der Versorgung mit dem Gut Gesundheit europäischer denken. Als in Italien und Frankreich die Krankenhäuser überlastet waren, wurden einzelne Patient:innen in andere Länder ausgeflogen und dort behandelt, auch in Sachsen. Grundlage hierfür waren aber in jedem einzelnen Fall einzeln getroffene Absprachen. Eine zentrale Erfassung vorhandener intensivmedizinischer Kapazitäten gab und gibt es nicht. Das müssen wir ändern: Wir müssen eine zentrale europäische Datenbank einführen, die den Abgleich vorhandener und benötigter Kapazitäten ermöglicht und hilft, Engpässe frühzeitig zu erkennen und abzufedern.

Sie könnte bei einer europäischen Gesundheits-Taskforce angesiedelt werden, wie Deutschland und Frankreich sie vorgeschlagen haben. Solch eine Taskforce könnte die möglichen Transfers von Patient:innen organisieren und Pandemiepläne zwischen Staaten abstimmen. Wie notwendig das ist, zeigen die jetzigen Öffnungsdiskussionen mit Blick auf die Sommerferien: Deutsche Staatsbürger:innen können derzeit nur in Länder reisen, die ähnliche Schutzstandards haben, weil sonst unklar wäre, welche Gefahren bei einer Heimkehr bestehen. Eine zentrale Koordinierungsstelle und abgestimmte Pandemiepläne würden verhindern, dass die Staaten der EU ihre Regelungen einzeln abgleichen müssen. 

Corona hat uns aber auch gezeigt, wie ungleich die Qualität der Gesundheitssysteme in der EU sind. In vielen Ländern sind die Gesundheitssysteme kaputtgespart, marode und auf einen Stresstest wie eine Pandemie gänzlich unvorbereitet. Eine zentrale Gesundheitskoordinierung könnte als Mahnerin gegenüber denjenigen auftreten, die in neoliberaler Sparwut ihre Gesundheitsversorgung abbauen. Sie könnte einheitlich hohe Standards in ganz Europa setzen und durch einen Wissensaustausch die Qualität in allen Ländern verbessern. 

…wie leicht wir in der Krise in vermeintlich überwundene nationale Kleinstaaterei zurückfallen.

Einer der ersten Reflexe der meisten Regierungen war, die Grenzen ihrer Länder zu schließen. Über Notfallklauseln wurde dabei in unkoordinierter Weise die Binnenfreizügigkeit Europas außer Kraft gesetzt. Schengen war plötzlich wieder nur Stadt und nicht Ideal – dabei ist die Freiheit, grenzenlos in Europa zu reisen gerade das, was die Attraktivität der Vision Europa für viele junge Menschen ausmacht. Jedes Land hat dabei für sich entschieden und Entscheidungen teils wie wankelmütig im Tagestakt geändert, und selbst Nachbarstaaten bestenfalls dürftig informiert. Wir dürfen in Zukunft nicht zulassen, dass derart weitreichende Entscheidungen derart unkoordiniert getroffen werden. 

Besonders betroffen waren Menschen, die in Grenznähe leben und arbeiten. Sie konnten nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen und mussten ihre Entlassungen fürchten. Oder sie mussten sich entscheiden zwischen ihrem Job und ihrer Familie. Das dabei etwa Sachsen die Unterbringung von Arbeitnehmer:innen aus Polen und Tschechien einschließlich engerer Familien finanziert hat, mag in dem Zusammenhang die richtige Entscheidung gewesen sein, löst jedoch das Dilemma nicht grundsätzlich auf. Unberücksichtigt bleiben die Konsequenzen für die Familien – was etwa, wenn der Partner oder die Partnerin im Heimatland einen Job hat? Dann müssen sich Menschen zwischen Arbeit und Familie entscheiden. 

Die besondere Schutzfunktion der Staatsgrenze bleibt unklar. Auch innerhalb Deutschland ist der Reiseverkehr deutlich eingeschränkt, durch anfangs bestehende Ausgangsbeschränkungen war er vorübergehend sogar fast gänzlich zum Erliegen gekommen – ohne, dass die Grenzen zwischen den Bundesländern geschlossen wurden. In vergleichbaren Krisenlagen sollte lieber regional, abhängig vom Wohnort, eingeschränkt werden, anstatt starre Grenzen zu ziehen. 

…dass ein solidarischer europäischer Kampf gegen eine Wirtschaftskrise machbar ist.

Die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Länder Europas in ungleicher Härte getroffen: Während Deutschland sie glimpflich überstanden hat, knabbern vor allem die Länder Südeuropas bis heute an den Folgen. Das liegt auch daran, zu welchen Bedingungen Europa ihnen in der Krise geholfen hat: Die strenge Sparpolitik, die auch die Bundesregierung ihnen gegenüber durchgesetzt hat, hat die Binnennachfrage abgewürgt, die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben und soziale Schieflagen gefestigt. In den Jahren nach 2008 war das primäre Ziel, mit gezielten Maßnahmen die Währung stabil zu halten. Die besonders schwer getroffenen Staaten mussten harte Sparauflagen umsetzen, mit teils schwerwiegenden Folgen für Wohlstand, Beschäftigung und den sozialen Zusammenhalt. Es wurde Finanzpolitik gemacht, ohne sie durch Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik zu flankieren – ein grundsätzlicher Strickfehler der EU.

Es ist eine der erfreulichsten Überraschungen der Corona-Krise, dass diese Fehler 2020 offenbar nicht wiederholt werden. Die EU-Kommission hat ein 750 Milliarden Euro schweres Maßnahmenpaket vorgelegt, das nicht nur aus Darlehen besteht, die die Haushalte der besonders betroffenen Staaten über Jahrzehnte lähmen würden. Stattdessen werden Schulden dieses Mal als EU aufgenommen, und Gelder werden als Zuschüsse und als Investitionen ausgezahlt: in Gesundheit, in Aus- und Weiterbildung, in Infrastruktur. Ziel ist es, die Wirtschaft zu stabilisieren, Arbeitsplätze zu sichern und gemeinsam stark durch die Krise zu kommen. 

Die Auszahlung der Gelder darf nicht daran geknüpft sein, dass Staaten Einsparungen an anderen Stellen versprechen: Einzige Maßgabe muss das tatsächliche Bedürfnis sein, gegen die Krise vorzugehen. Es muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Corona-Pandemie eine Krise ist, von der alle Staaten unverschuldet betroffen sind, und die daher auch gemeinschaftlich und solidarisch gelöst werden muss. 

…dass Investitionen in eine klimagerechte Wirtschaft nicht nur nötig, sondern auch möglich sind.

Durch den vorübergehenden Zusammenbruch des Flugverkehrs und die Schließung von Fabriken in manchen Gegenden ist die Luftverschmutzung drastisch gesunken: Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ist die Stickstoffbelastung zu Beginn der Corona-Krise in Europa um bis zu 50% gesunken. Das droht jedoch ein kurzfristiger Effekt zu sein: Wenn der Reiseverkehr wieder Fahrt und Flug aufnimmt, drohen Luftverschmutzung und CO2-Emissionen wieder zum traurigen Normalniveau zurückzukehren. 

Um das zu verhindern, müssen wir Gelder gezielt in eine ökologische Infrastruktur stecken. Statt Fluggesellschaften zu retten, sollten wir Milliarden in den schnellen Ausbau eines europäisches Bahnnetzes investieren. Von Budapest nach Barcelona, von Stockholm nach Salerno, von Lund nach Lissabon, von Brest nach Bukarest – wer wird noch fliegen wollen, wenn die Bahn in acht Stunden oder weniger dort ist, über Tag oder über Nacht, zu günstigen Preisen? Wir sollten die Gelder, die wir jetzt ohnehin in die Hand nehmen für die dringend notwendige Transformation nutzen. 

Der große Vorteil eines gemeinsamen europäischen Markts gegenüber 27 kleinen ist seine Relevanz für weltweit agierende Unternehmen. Die meisten weltweit tätigen Unternehmen meinen es sich nicht leisten zu können, auf den großen europäischen Markt und seine 447 Millionen potenziellen Kund:innen zu verzichten. Dadurch ist die EU in der Lage, soziale und ökologische Vorgaben zu setzen, an die Unternehmen sich halten werden. Dieser Macht muss Europa sich bewusster werden und sie gezielt nutzen, um eine weltweite soziale und ökologische Transformation zu bewirken. 

…wie unmenschlich die Festung Europa an ihren Außengrenzen ist.

Europa ist nach innen das Versprechen von Zusammenhalt und Gemeinschaft. Nach außen jedoch ist es eine Festung, es teilt die Welt in zugehörige Clubmitglieder und vor den Toren stehende Bittsteller:innen. Das ist die Kehrseite des gegenwärtigen Modells innereuropäischer Solidarität: Schengen ist so konstruiert, dass es die Abschaffung innerer Grenzen durch eine Befestigung der äußeren kompensiert – für Menschen von außen ist es daher keineswegs das Projekt „offene Grenzen“, das es von innen zu sein scheint. 

Das bekommen Menschen seit Jahren zu spüren, die vor Krieg und Vertreibung flüchten wollen und an den europäischen Außengrenzen abprallen. Besonders drastisch wird uns das während der Corona-Krise vor Augen geführt: Während an ein solidarisches Verhalten appelliert wird und wir aufgerufen werden, Abstand zu halten, leben noch immer tausende Menschen unter unwürdigen Bedingungen in Lagern wie Moria an der EU-Außengrenze auf engstem Raum. Die EU versagt seit Jahren dabei, die Würde dieser Menschen zu respektieren und sie aufzunehmen.

Das Versprechen etwa Sachsens, einzelne Hunderte aus den griechischen Lagern aufzunehmen, ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse durchaus als Erfolg der an der Regierung beteiligten linken Parteien anzusehen. Jede:r, der durch solch ein Programm aus den Lagern befreit werden kann, ist ein Erfolg. Aber Jede:r, der zurückgelassen wird, ist Zeugnis des Versagens Europas.

Das Papier #coronazeigtuns: Europa & EU gibt es hier als PDF-Datei zum Herunterladen.